Festmist

Kapitel 6

Ab die Post

Die ganze Stadt war mit diesen merkwürdigen Plakaten überzogen. Elsa konnte sich nicht erklären, was dieser merkwürdige Schriftzug mit dem verrotteten Gülleanhänger zu bedeuten hatte. Immerhin konnte sie die nächsten Zeilen lesen. Es war eine Ankündigung und eine Liste mit Namen, viele davon hatte sie noch nie gehört. Voodoo Jürgens, Rex Dildo oder Rosenstrunz konnte sie entziffern. Als sie wieder an einem dieser Plakate vorbeikam, standen ein paar Passanten davor und diskutierten laut.
„Junger Mann“ Elsa tippte einer der Personen mit ihrem Hörrohr auf die Schulter. Der Mann drehte sich herum und Elsa blicke in ein verwirrt wirkendes Gesicht. „Junger Mann, was hat es mit diesem Plakat auf sich? Was bedeutet dieser verrottete Gülleanhänger zwischen dem K und dem A?“
Der junge Mann blicke immer noch verwirrt, als ihm Elsa das eine Ende des Hörrohres unter die Nase hielt während sie das andere ins Ohr steckte. „Oh, der Gülleanhänger? Nun, das soll ein O sein. Eigentlich steht da KOA“ sagte er recht laut ins Rohr.
„Schreien Sie nicht so – ich bin ja nicht taub“ fluchte sie und zog das Rohr weg.
„Und was bedeutet KOA?“ Elsa hielt ihm das Hörrohr wieder hin.
Jetzt sprach der junge Mann sehr leise „Kacken Open Air. Das größte Punkschlager Festival auf Gülle. Über Siebzigtausend Fans kommen jedes Jahr nach Kacken um drei Tage lang Musik zu hören, zu tanzen und zu saufen.“
„Und jetzt noch mal lauter, damit ich es auch verstehen kann, junger Mann“ Es war für Elsa ein Leichtes, jeden in ihrer Umgebung binnen zwei Minuten zum Kochen zu bringen.
Nach etwa einer Stunde wußte Elsa alles über KOA. Kacken war ein kleines Nest mit zweihundertzweiunddreißig Einwohnern und siebenhundertfünf Gülleanhängern. Allein diese Tatsache ließ darauf schließen, daß Kacken eine reiche Gemeinde war, was die Kacker aber immer mit Nachdruck abstritten. Nicht, daß Neid aufkam und die umliegenden Dörfer und Kirchflecken wie Ober Brunzen und Pasters Haufen von dem Reichtum etwas abhaben wollten.
Die Festivalbesucher kamen in der üblichen schwarzen Montur, bestehend aus schwarzer Hose, schwarzen Schuhen, schwarzem Jackett und schwarzer Sonnenbrille – dem typischen Voodoo-Jürgens-Look. Wer nicht das Glück hatte, von Natur aus mit schwarzen Haaren gesegnet zu sein, färbte sich diese, was jedes Jahr regelmäßig zu Engpässen bei der Haarfärbemittelversorgung führte. In den letzten Jahren kam noch ein Tattoo hinzu, ein sogenanntes Arschgeweih. Voodoo Jürgens hatte sich eines stechen lassen, hieß es. Als ein Groopie nach einem Konzert in seine Garderobe gestürmt kam, vorbei an den Bodyguards und den wartenden Autogrammjägern, hatte sie ihn unter der Dusche erwischt, wo er Money makes the world go round sang. Die herbeigeeilten Bodyguards zerrten die schon halb entkleidete Dame aus dem Raum und vorbei an den Autogrammjägern. Dabei schrie sie immer wieder „Er hat ’n A’schg’weih“. An diesem Abend mußte Voodoo Jürgens keine Autogramme geben, dafür hatte der ortsansässige Tattoo-Shop zweiundsiebzig Stunden durchgehend geöffnet. [1]
Elsa erfuhr auch, daß viele dieses Tattoo wieder los werden wollten. Es ging das Gerücht um, Voodoo Jürgens habe sich lediglich für die Feierlichkeiten zum Verrückten Gras ein Tattoo aufkleben lassen. Seit dieser Zeit liefen viele Güllianer mit einer recht breiten Narbe über dem Steiß herum.
Besonders beeindruckend fand Elsa jedoch den Voodoo Jürgens Headbanger Contest, der an allen drei Tagen während des KOA stattfand. Die Punkschlager Fans standen dabei auf einer eigens hierfür errichteten Bühne, in deren Mitte sich ein recht langer und vor allen Dingen breiter Pfahl befand. Die Übung bestand nun darin, seinen Kopf so lange wie möglich gegen diesen Pfahl zu hauen. Es gab Preise für den Fan, der am längsten auf den Beinen blieb, für den Fan, der am schönsten zu Boden sank oder für den Fan mit der größten Beule. In diesem Jahr sollte der Andrang besonders groß sein, da man es endlich ins Holgi Buch der Rekorde schaffen wollte. Mehr als sechstausendzweihundert Headbangers waren nötig, da der 1. HC Kotzenkaten letztes Jahr bei seinem Vereinsfest diese Rekordmarke aufgestellt hatte.
Als Elsa wieder Richtung Stadtmauer ging, drehte sich alles in ihrem Kopf, als hätte sie selbst an dem Wettbewerb teilgenommen. Sie bog wankend mit ihrem Rollator in die Sören-Sörensen-Straße und mußte sich erst einmal auf die Bank unter der alten Kastanie in den Schatten setzen und ausruhen. Sie legte den Kopf auf die Brust, faltete die Hände, atmete tief durch und schlief ein. Als sie wieder aufwachte fing es an zu dämmern und auf ihrem Schoß hatte es sich eine Katze gemütlich gemacht. Imbische Schnaufenten hatten sich zu ihr gesellt und schnatterten vergnügt in Erwartung einer kleinen Zwischenmahlzeit. Elsa setzte die Katze auf die Bank, verteilte die letzten Brotkrumen, die sie noch in der Jackentasche hatte an die Enten und machte sich wieder auf den Weg. Schließlich mußte sie vor der Dunkelheit noch die Stadtmauer erreichen und dort den toten Briefkasten. Sie schmunzelte, als sie an den toten Briefkasten dachte. Natürlich wußte sie, was das war, aber ihre Freundinnen in Rage zu bringen machte auch Freude. „Ein toter Briefkasten?“ fragte sie Frieda und Linda „Hat der denn mal gelebt?“
„Nein, Elsa. So nennt man ein Versteck, um jemandem eine Nachricht zukommen zu lassen. Unser toter Briefkasten ist am Osttor der alten Stadtmauer, gleich neben dem linken mittleren Scharnier in einer Spalte. Du legst dort die Nachricht für D-Man hinein und gehst dann auf der Straße Richtung Kotzenkaten. An der ersten Eiche setzt Du Dich auf die Bank und wirfst das Butterbrotpapier in den Papierkorb. D-Man weiß dann, daß eine Nachricht für ihn bereit liegt.“ Frieda Affron wußte nie genau, ob Elsa wirklich so tüdelig war, oder ob sie nur so tat. Schließlich sagte sie noch „Die Nachricht muß bis sechs Uhr heute Abend an ihrem Platz sein, sonst müssen wir eine Woche warten.“
„Meinst Du nicht, daß der Papierkorb geleert werden könnte, bevor D-Man das Zeichen sieht? Und überhaupt, das wird wohl nicht das einzige Butterbrotpapier im Mülleimer sein“ entgegnete Elsa, ihr Hörrohr Richtung Frieda streckend.
„Oh doch“ erwiderte sie, „oder kennst Du einen Güllianer, der das Prinzip Mülleimer verstanden hat? Es werden an der Bank viele Butterbrotpapiere herumliegen, aber bestimmt nicht im Papierkorb und geleert versteht ein Güllianer nicht, weder mit e noch mit h.“ Frieda hatte schon oft den toten Briefkasten verwendet, um mit Deep Manure in Kontakt zu treten.
„Nun, dann werde ich mir mal ein Pausenbrot schmieren und mich auf den Weg machen“ sagte Elsa und ging in die Küche.
Sie hatte gar nicht bemerkt, wie die Zeit verstrich. Als sie aus ihren Erinnerungen erwachte, stand Elsa am Osttor der alten Stadtmauer und rieb sich die Augen. Nach einigem Suchen fand sie den Spalt und steckte den Brief hinein oder besser versuchte es, aber seit sie kein Yoga mehr machen konnte, hatte sie Probleme mit der Gelenkigkeit. Das mittlere Scharnier. Elsa hätte ihre Freundin Frida am liebsten an diesem mittleren Scharnier aufgeknüpft. Hätte sich Frida nicht das untere Scharnier aussuchen können, oder noch besser die Sockelreihe der Mauer? Nein, es mußte das mittlere Scharnier sein und Elsa konnte nun sehen, wie sie die letzten dreißig Zentimeter überwinden würde. Sie versuchte es mehrere Male, bis sie sich auf einen Mauervorsprung setzte und sich erst einmal erholen mußte. Kaum saß sie, kam die Katze aus der Sören-Sörensen-Straße und setzte sich wieder auf ihren Schoß. Elsa streichelte das Tier ein wenig und die Katze fing sofort an zu Schurren. Sie drehte sich dreimal auf dem Schoß um sich selbst und begann auf Elsa herumzuturnen. Als sie schließlich auf der Schulter ankam, setzte sie sich und putzte, immer noch laut schnurrend, ihre Vorderpfoten. Elsa schielte zur Seite und musterte die Katze. Diese hörte auf sich zu putzen und erwiderte den Blick. Elsa kam eine Idee. Sie kramte im Ablagefach ihres Rollators und fischte die Nachricht für D-Man hervor. Die Katze schaute Elsa verwirrt an. Sie hatte ein Leckerli erwartet und sollte nun so einen dämlichen Brief fressen?
Als Elsa ihr den Brief vor die Schnauze hielt und sagte „Könntest du mir ein wenig helfen?“, sprang die Katze auf und ging, ohne Elsa eines weiteren Blickes zu würdigen mit erhobenem Schwanz zurück in die Stadt.
Elsa seufzte und setzte sich wieder auf den Mauervorsprung. Sollte ihr wunderbarer Plan wegen dieses dämlichen Rheumas vor der Stadtmauer enden? Sie ging ihre Möglichkeiten im Geiste durch. Da war der Rollator. Sie könnte versuchen auf das Ablagefach zu steigen und somit die Nische zu erreichen. Sie verwarf diesen Gedanken sehr schnell und hoffte, daß niemals ein Drehbuchautor oder Romanschreiber auf diese Idee kam. Blieb eigentlich nur noch der Mauervorsprung, auf dem sie saß. Aber wie hätte sie sich an der Mauer festhalten und zum toten Briefkasten emporziehen können? Alles in allem war ihre Situation aussichtslos und also konnte auch nichts schief gehen. Elsa war und blieb ein Optimist.
Sie setzte sich also wieder auf den Mauervorsprung und hoffte auf eine zündende Idee, als zwei Güllianerinnen Richtung Stadttor gingen. Als sie an Elsa vorbeigingen murmelte eine der beiden Frauen die typisch güllische Begrüßung. Ohne Elsa anzuschauen sagte sie „Tach“ und ging weiter. Elsa hatte sie wegen ihrer angeborenen Hörschwäche nicht verstanden und kramte das Hörrohr hervor. Bevor sie aber mit ihrem Rohr bewaffnet aufstehen konnte, waren die beiden Güllianerinnen schon durch das Stadttor verschwunden. Erbost fuchtelte Elsa mit dem Hörrohr hinter den Frauen her und wollte es gerade wieder verstauen, als sie sich das Gerät etwas genauer ansah. Oben ein Loch, unten ein Loch und in der Mitte ein Kanal, durch den man Luft blasen konnte. Sie stellte sich vor die Stadtmauer neben das Tor und steckte die zusammengerollte Nachricht an D-Man in die eine Öffnung. Nun hob sie das weltweit erste gebogene Blasrohr zur Nische oberhalb des mittleren Scharniers und blies so kräftig sie konnte in die andere Öffnung. Die zusammengerollte Nachricht schob sich aus dem Rohr und verkantete in der Nische. Damit es nicht weiter auffiel, klopfte sie die Nachricht noch etwas tiefer in den Spalt, betrachtete zufrieden das Resultat und wankte mit ihrem Rollator Richtung Kotzenkaten und setzte sich auf die Bank unter der Eiche. Wie Frieda vorausgesagt hatte, lag in der Umgebung reichlich Unrat, aber der Papierkorb war sauber wie am ersten Tag.
Nachdem Sie ihr Pausenbrot verzehrt hatte, warf sie das Butterbrotpapier in den Papierkorb und machte sich auf den Heimweg. Gerade, als sie durch das Osttor der Stadtmauer ging, erklang die Glocke der St. Blasius Kirche. „Sechs Uhr“ dachte Else und war zufrieden, daß sie ihr Tagwerk noch rechtzeitig vollbracht hatte.
Kaum war Elsa hinter der Stadtmauer verschwunden, tauchte eine Gestalt hinter dem mächtigen Stamm der alten Eiche auf und ging zum mittleren Scharnier des Osttores.

[1] Man erzählt sich, der Inhaber habe danach den Laden dicht gemacht und sei nach Negerndödl gezogen, um dort Hühner die grüne Eier legen zu züchten. [zurück]